Gewählte Publikation:
Ziegerhofer, S.
Die allgemeinmedizinische Versorgung von Menschen mit psychischer Erkrankung.
Herausforderungen. Grenzen. Bedürfnisse.
Humanmedizin; [ Diplomarbeit ] Medizinische Universitaet Graz; 2020. pp. 90
[OPEN ACCESS]
FullText
- Autor*innen der Med Uni Graz:
- Betreuer*innen:
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Dalkner Nina
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Reininghaus Eva
- Altmetrics:
- Abstract:
- Einleitung
Die medizinische Versorgungsforschung hat es u.a. zur Aufgabe, die Versorgungssituation von charakteristischen PatientInnengruppen zu explorieren. Personen mit psychischen Erkrankungen stellen dabei einen spezifischen PatientInnenkreis dar, welcher einen besonderen Zugang und Aufmerksamkeit in der somatischen Behandlung und Versorgung benötigt. Empirische Studien belegen zudem den Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und einer verminderten Lebenserwartung, wobei die zugrunde liegenden Ursachen noch nicht genügend geklärt sind. Ein möglicher Grund könnte eine unzureichende somatisch-medizinische Versorgung sein. Gerade AllgemeinmedizinerInnen nehmen in der somatischen (Langzeit-)Versorgung dieser PatientInnen eine bedeutsame Schlüsselrolle ein. Es gilt herauszufinden, wo dabei die aktuellen Schwierigkeiten, Herausforderungen sowie Wünsche und Verbesserungsmöglichkeiten liegen, um adäquate Handlungsempfehlungen und Adaptierungen auf gesundheitspolitscher Makro- und ärztlicher Mikroebene generieren sowie die potenzielle Gefahr einer Minderversorgung minimieren zu können.
Methodik
Die theoretische Grundlage dieser Arbeit bildet eine umfassende hermeneutische Literatur- und Studienrecherche. Auf deren Basis galt es als Ziel, die aufbereitete Theorie mit qualitativen Daten aus der Praxis zu ergänzen. Siebzehn steirische AllgemeinmedizinerInnen wurden hinsichtlich ihrer Erfahrungen und Bedürfnisse in der somatischen Versorgung psychisch kranker Personen befragt. Die Auswertung der semistrukturierten Leitfadeninterviews erfolgte durch die induktive qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring.
Ergebnisse
Die ausgewerteten Ergebnisse zeigen ein breites Stimmungsbild praktizierender AllgemeinmedizinerInnen sowie deren Zugänge hinsichtlich des Zusammenhangs von Lebenserwartung und psychischer Erkrankung. Herausforderungen, Probleme und Hindernisse in der direkten und indirekten Arbeit mit psychisch kranken PatientInnen kommen dabei ebenso stark zum Ausdruck wie Bedürfnisse und Anregungen für eine verbesserte Versorgung. Die erhobenen Kategorien und Inhalte korrelieren zu einem großen Teil mit jenen der theoretischen Erarbeitung. Gründe für die erniedrigte Lebenserwartung werden in einer komplexen Ursachenvielfalt gesehen. Einflussnehmend scheinen u.a. Faktoren wie Lebensstil, geringe Compliance, reduzierte Lebensfreude, gesteigerte Vulnerabilität, erhöhte Suizidalität, Suchttendenzen, medikamentöse Neben- und Wechselwirkungen sowie Körper-Psyche-Interaktionen zu sein. Besondere Herausforderungen in der Versorgung liegen in den geringen finanziellen und zeitlichen Ressourcen, der mangelnden Therapietreue, ungenügend allgemeinmedizinischen und psychiatrischen Plan- und Kassenstellen sowie psychotherapeutischen/psychologischen Therapieplätzen und deren Finanzierung, diagnostischen Erschwernissen, pharmakologischen Wechsel- und Nebenwirkungen, sozioökonomischen Hintergründen und Stigmatisierung. Wünschenswert und notwendig wären eine verstärkte multiprofessionelle Zusammenarbeit und Vernetzung, bessere finanzielle Honorierung, Schaffung zeitlicher und struktureller Ressourcen, Anlaufstellen für Akutfälle, spezifische Fort- und Weiterbildungen, sorgfältige Untersuchungsprozedere, Implementierung von Diagnose- und Screeninginstrumenten, regelmäßige Verlaufskontrollen, weniger gesetzliche Beschränkungen sowie Sicherstellung einer flächendeckenden Grundversorgung.
Schlussfolgerung
Eine Vielzahl an Faktoren auf unterschiedlichsten Ebenen haben sich als potenziell hinderlich in der somatischen Versorgung psychisch kranker Menschen herausgestellt und geben Hinweise für mögliche Verbesserungs- oder Lösungsansätze. Um eine adäquate somatische Versorgung dieser PatientInnen zu gewähren sowie einer eventuell geringeren Lebenserwartung entgegenzuwirken, bedarf es laut Theorie und empirischer Erhebung einer dringenden Bewusstseinsschaffung und konkrete Verbesserungsmaßnahmen.